Offener Brief an Dagmar Neubronner


Liebe Dagmar,

erfreut habe ich zur Kenntnis genommen, dass es eine Konferenz geben soll, die zum Wandel unserer betrüblichen Bildungslandschaft beitragen kann. Allerdings war ich beim Lesen dessen, worum es gehen soll, zunehmend erschrocken - um nicht zu sagen: entsetzt!

Ich verspüre das starke Bedürfnis, meine Bedenken und Gedanken zu äußern. Du wirst hoffentlich Verständnis dafür haben, dass ich versuche, in besonnener Weise etwas auseinanderzunehmen, was üblicherweise polemisch diskutiert wird. Mein Anliegen ist es, mit diesem Beitrag eine sachliche Diskussion anzuregen. Ich habe nicht die Absicht, mich hier zu äußern, wer die Konferenz organisiert – beispielsweise darüber, wer wen weshalb zur Mitwirkung eingeladen hat – mir geht es um ganz andere Punkte.

Ihr schreibt von „Bildung zu Hause“ als „pädagogischer Innovation“! Soll hier mit der häuslichen Beschulung als einer neuen Pädagogik eine andere ergänzt oder ersetzt werden? Wäre dies nicht eine vielfältigere Form von „mehr desselben!“? Meiner Erfahrung nach wehren sich viele Menschen bei dem Gedanken, das Recht auf Selbstbestimmung in die Hände der Kinder zu legen, da diese doch gar nicht wüssten, was gut für sie ist. Ebenso, und vielleicht noch mehr, wehren sie sich, wenn nun die „Pädagogik“ in die Hände der Eltern gelegt werden soll.
 
Ihr schreibt: „Freies häusliches Lernen ist ein grundlegendes Menschenrecht“ – da habe ich mich gefragt: Wieso „häuslich“? Wieso „Lernen“? Ist Lernen nicht zu zielgerichtet? Ist es nicht gar zu leistungsbezogen? Wo verwirklicht sich das Recht etwas nicht zu lernen? Wieso nicht freie Bildung an sich, die weder ein bloßes Lernen noch ein bloßes häusliches Lernen bedingt?

Ich habe dieses wunderbare, von Dir übersetzte Buch gelesen. Im „Teenager Befreiungs Handbuch“ wendet sich die Autorin an genau die Menschen, um die es geht: die jungen Menschen! Gerade sie ermutigt sie, ihre eigene Bildung selbst in die Hand zu nehmen – bestückt mit zahllosen Beispielen von jungen Menschen, die dies tun und getan haben. Da hat es bei mir „klick“ gemacht, ich habe daraufhin begonnen, einen Blog zu schreiben, adressiert an eben die Menschen, deren „grundlegendes Menschenrecht“ es zu schützen gilt, die noch nicht einmal eine Ahnung davon haben, dass Ihnen dieses Recht zustehen sollte oder könnte: die sogenannten „Schüler“!

Und nun lese ich, was ihr unter „Menschenrecht“ versteht: „Das Recht der Eltern, über die Form der Erziehung zu entscheiden, die ihre Kinder erhalten.“ Ich muss sagen, ich bin aus allen Wolken gefallen, so sehr erschüttert mich das! Ist es wirklich „ungerecht und einer freien Gesellschaft unwürdig“, wenn Eltern dieses Grundrecht verweigert wird? Ist es nicht vielmehr gegen die Würde eines jeden Menschen, wenn er als Erziehungsobjekt gesehen und behandelt wird? Als unfertiger Mensch, der belehrt und „gebildet werden“ muss? Die Kinder sind Erziehungsobjekte der heiligen Allianz Eltern und Pädagogen - welcher Part dieser heiligen Allianz nun mehr Macht hat, spielt da doch wahrlich keine Rolle! Soll um diese Macht nun weiter gefochten werden? Abgesehen von meiner festen Überzeugung, dass es auf diesem Schlachtfeld keinen Gewinner geben kann und wird, so befürchte ich im Zuge dieses „Kampfes“ eine Verhärtung der Fronten – und das wäre doch total kontraproduktiv, ja regelrecht ein gefährlicher Schuss nach hinten!

„Niemand kennt ein Kind besser als die Eltern, und jedes Kind ist ein Individuum.“ Würden die „Kinder“ dem wohl zustimmen? Sind sie sich eigentlich dessen bewusst, dass sie Individuen sind? Werden sie so behandelt? Fühlen sie sich als Individuen respektiert und in ihrer Würde geachtet? Erleben sie sich eigentlich als Herr ihrer selbst, dürfen sie das überhaupt? Aufgrund meiner eigenen beruflichen Erfahrung (als Psychologin) kann ich nicht ruhigen Gewissens für das propagierte Elternrecht plädieren, denn die Eltern sind nicht in jedem Falle die Quelle körperlicher, seelischer und geistiger Gesundheit. Ich nehme zuhauf eine furchtbare Missachtung der Grundrechte junger Menschen wahr (Würde! freie Entfaltung der Persönlichkeit! Freiheit!) – vonseiten der Eltern, vonseiten der Schule – es spielt keine Rolle: schlichtweg vonseiten der Erwachsenen!

Für wessen Grundrechte wollt Ihr Euch einsetzen? Ihr, die „heterogene globale Bewegung von Eltern, die das Beste für ihre Kinder möchten und die ihre eigenen, einzigartigen Möglichkeiten gefunden haben, um ihre Kinder zu erziehen.“ Eine vielfältige und globale Bewegung ist wunderbar! Und ich gehe grundsätzlich davon aus, dass Eltern das Beste möchten. Ob das, was sie tun, wie sie erziehen oder wie sie „ihre Kinder bilden“, wirklich das Beste ist (oder im Nachhinein war), ist eine ganz andere Frage! Wer anderes vermag darüber zu urteilen, wenn nicht die von Erziehung betroffenen (um nicht zu sagen: befallenen) Menschen selbst?

Das Grundrecht auf freie Bildung bleibt nach Eurem Einsatz dort, wo es nicht hingehört, nämlich nicht beim Individuum, beim jungen Menschen selbst! Es geht Euch darum, dass „Eltern ihre Kinder zu Hause bilden“ und eben nicht darum, dass sie sich bilden – zu Hause oder wo auch immer – vielleicht sogar in der Schule! Dabei finde ich eure Haltung, dass es keine Rolle spielen soll oder braucht, welche „Philosophien, Methoden und Gründe dazu führen können, dass Eltern ihre Kinder zu Hause bilden“ mehr als bedenklich. Zum einen bezweifle ich sehr, dass bei eurem Ansinnen tatsächlich zugrundeliegende Ansichten keine Rolle spielen und denke vielmehr, dass durchaus subtile Absichten vorliegen. Ist denn die Vorstellung, dass der junge Mensch zum Bildungsobjekt gemacht werden soll, nicht ein dermaßen eklatanter Verstoß gegen seine Würde und Freiheit? Mir leuchtet es nicht ein, wie ein solches Anliegen fern von Philosophien, Methoden und Gründen erfolgen kann. 

Zum anderen sollte es gerade darum gehen, die Rechte des Menschen da zu verteidigen, wo sie allzu oft gefährdet werden: nämlich durch die Degradierung zum Objekt von „Bildungsverantwortlichen“, „Politikschaffenden“ und „Arbeitgebern“, welche sich zum Ziel ihres gemeinsamen Projektes machen, „eigenständige, verantwortungsbewusste, reife junge Menschen hervorzubringen“.

Euer Anliegen erinnert mich an die Ebene, auf der gewöhnlich Scheidungskriege ablaufen: Selbst wenn im Kampf zwischen „Vater Staat“ und „Mutter Familie“ nicht über die jeweiligen Philosophien, Methoden und Gründe diskutiert wird, so geht es dabei doch letztendlich um die Frage, wer von beiden es besser macht mit dem „Zögling“ – und im „besten“ Falle nur darum, wie sie gemeinsam am erfolgreichsten auf ihr Erziehungs- und Bildungsobjekt einwirken können.

Diese Betonung auf das Bildungsobjekt hat mich beim Lesen immer wütender und wütender gemacht, deshalb zitiere ich noch einmal: Es geht Euch darum, dass „Eltern die Freiheit haben müssen, diese Form der Bildung für ihre Kinder zu wählen… Dieses Recht ist von grundlegender Bedeutung und muss in allen freien Gesellschaften geschützt werden.“  Nein, dreimal Nein!!! Das Recht des jungen Menschen, also der Person gilt es zu schützen, nicht das Recht derer, die über sie bestimmen wollen!

Diese Forderung – das möchte ich ausdrücklich betonen – ist im Sinne unserer demokratischen Grundsätze. Die allgemeinen freiheitlich-demokratischen Prinzipien gilt es da zu schützen und zu verteidigen, wo sie nicht immer bestanden haben und wo sie heute noch immer besonders gefährdet sind.


Mit freundlichem Gruß
Franziska




6 Kommentare:

  1. Ein Satz, der mir hier besonders entgegenspringt, ist dieser:
    Und nun lese ich, was ihr unter „Menschenrecht“ versteht: „Das Recht der Eltern, über die Form der Erziehung zu entscheiden, die ihre Kinder erhalten.“

    Das erinnert mich daran, dass eine meiner besten Freundinnen (sie ist 52 Jahre alt) nach dem Willen ihrer Eltern auf der Hauptschule bleiben sollte. Nur dem Engagement einer Lehrerin hatte sie es zu verdanken, dass sie wenigstens die Realschule machen durfte. An und für sich wäre sie auf dem Gymnasium richtig gewesen. Auf dem zweiten Bildungsweg hat sie dann Abitur gemacht, später studiert ...

    Eine andere, etwa gleichaltrige Freundin, wollte unbedingt Hebamme werden, sie hatte bereits ein ganzes Konzept im Kopf, was sie nach und mit ihrer Ausbildung dann machen würde ... Sie war noch minderjährig, hatte sich selbst einen freien Ausbildungsplatz gesucht - und hätte als Minderjährige das schriftliche Einverständnis ihrer Eltern gebraucht, um ihren Traum verwirklichen zu können. Sie bekam es nicht ...

    So kann es leider auch ausgehen, wenn Eltern das Recht und die Macht haben, darüber zu entscheiden, wie die Erziehung und Bildung ihrer Kinder verlaufen soll.

    Grund- und Menschenrechte gelten nicht erst ab Volljährigkeit!

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  2. Und nun bringe ich noch etwas ein, das ich eben auf der Seite www.ghec2012.org gelesen habe:
    So, wie Schule eine Innovation der frühen Industriegesellschaft war, sist Home Education die pädagogische Innovation der frühen Wissensgesellschaft.

    Den ersten Satzteil zweifle ich an. Die Formulierung "Innovation der frühen Industriegesellschaft" klingt positiv, was irreführend ist, denn die Schule der Neuzeit erwuchs aus dem Bestreben, im "gemeinen Volk" gehorsame, fügsame, nicht ganz tumbe, sondern rudimentäre Kulturtechniken beherrschende Gottesgläubige und Soldaten heranzuziehen. Es war von Anfang an das Bestreben der Mächtigen, ihre Untertanen zu formen. (Ich beziehe mich auf die Anfänge der Schulpflicht in Deutschland/Preußen.)

    Auch den zweiten Satzteil, dass "Home Education die pädagogische Innovation der frühen Wissensgesellschaft" ist, zweifle ich an. Hausunterricht wurde insbesondere den Sprösslingen der gesellschaftlich Besser- und Bestgestellten zuteil, was ganz klar elitäre Gründe und Ziele hatte. Diese Tatsache führte dazu, dass in der Weimarer Verfassung die allgemeine Grundschulpflicht eingeführt wurde, um diesem elitären Bestreben entgegenzutreten. (Ich beziehe mich wieder auf die Situation in Deutschland/dem Deutschen Reich.)

    M. E. hat Schule genausowenig mit Industriegesellschaft wie Home Education mit Wissensgesellschaft zu tun.

    Die Geschichte der Erziehung und Bildung in Schulen (und andernorts) ist komplex, hier seien zwei weiterführende Links genannt:
    Schulgeschichte http://www.planet-wissen.de/alltag_gesundheit/lernen/schulgeschichte/index.jsp
    Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Preußen 1717 http://www.preussen-chronik.de/episode_jsp/key=chronologie_002390.html

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    1. Danke Elisa Mari für Deine bereichernden Kommentare!

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    2. M. E. hat Schule sehr viel mit der Industrialisierung zu tun, da genau die gleichen Prinzipien der Industrialisierung auf die Schule angewandt wurden. Die Schule war ein vorgelagerter Prozess, welcher die Industrialisierung überhaupt erst zum Gelingen brachte. Der Staat war lediglich der abgeschottete wirtschaftliche Binnenmarkt. Aus industrieller Optik war es ein Erfolgsmodell und innovativ. Als Erfolgsmodell würde ich es persönlich ebenfalls überhaupt nicht bezeichnen, da es eigentlich nur eine andere Art Sklavenhaltung war/ist. Ganz im Sinne der Industriellen, welche gleichzeitig auch Verwalter des Staates waren.

      Kindzentrierte freie Bildung ist die eigentliche Weiterentwicklung. Dass diese ART von Bildung mit Home education gekoppelt wird, hat damit zu tun, dass sie heute fast nur in einer reifen Familie oder einer familienähnlichen Struktur möglich ist.

      Mit Innovation hat Home education gar nichts mehr am Hut, wenn mit Homeschooling rückwärtsgewandte republikanische Konzepte eingefordert werden.

      Diese Differenzen beschäftigen uns schon seit über 10 Jahren. Gemäss der Integralen Theorie des Philosophen Ken Wilber sehen wir hier eine klare prae/trans-Verwechslung. Wie es in diesem Blog gemacht wird, muss man genau hinschauen.

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  3. Hallo Franziska, vielen Dank für diesen Beitrag. Ich war anfänglich auch sehr angetan von der Idee der Konferenz und wurde dann durch Diskussionen auf einer englischen Liste regelrecht aufgeschreckt und hellhörig. Nun, bis dato war mir die HSLDA auch kein Begriff. Seitdem haben wir mit verschiedenen Leuten darüber gesprochen, und ich merke, wie schwierig es ist, sich als (immer noch) Newbe Meinungen zu bilden (woher bekomme ich welche Informationen, und wie sind diese zu bewerten?).

    Wäre es dir recht, wenn ich deinen offenen Brief auf meinem Blog abdrucke? Ich finde ihn sehr wichtig und auf den Punkt gebracht. Du kannst mich unter unschooling-village@gmx.de oder über den Blog http://unschooling-village-project.blogspot.de erreichen. Ich freue mich über deine Rückmeldung. Viele Grüße, Sabine

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  4. Ich selbst bin Atheist und favorisiere Unschooling, und so könnte man erwarten, dass ich Kritik an religiösen Homeschooler zustimme. Nur sollte man eines nicht vergessen: Die staatliche Zwangsschule ist das weitaus größere Übel. Denn, wenn es erst einmal ein Recht auf Homeschooling gibt, kann auch jeder Unschooler sein Kind aus der Zwangsschule nehmen, und niemand wird ihn zwingen, sein Kind zu Hause selbst zu indoktrinieren. Die Zwangsschule produziert Einheitsmeinungen, Homeschooling würde, selbst wenn alle Eltern nur indoktrinieren würden, eine sehr viel pluralistischere Gesellschaft erzeugen, schon weil verschiedene Eltern verschieden indoktrinieren. Und, jedem Kind stehen zu Hause zwei Eltern gegenüber, in der Schule jedoch eine riesige bürokratische Organisation. Wem gegenüber ist ein Kind heute machtloser? Wo hat es eher eine Chance, durchzusetzen, dass es das lernen kann, was es selbst lernen will? In einer Schulklasse, wo der Lehrer seinen Lehrplan abarbeitet, oder zu Hause, wo es mit eigener schlechter Laune die Eltern durchaus nicht unwesentlich bestrafen kann, wenn ihm ungeliebte Lerninhalte aufgenötigt werden?

    Vergesst auch nicht, dass Unschooling, eine wirkliche Freiheit des Kindes, zu lernen was es lernen will, von noch viel weniger Leuten auch nur toleriert wird, als Homeschooling, bei dem wenigstens die ja heute schon klassischen Vorstellung von lernenden Kindern bedient werden.

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